Um Antwort wird gebeten: Der Fall „Nordsee“

Vielleicht erinnern Sie sich: Am 10. September 2017 analysierten wir an dieser Stelle eine Meldung der Tagesschau, die auf einer fragwürdige Antwort des Bundesumweltministeriums auf eine Kleine Anfrage der Grünen fußte („Bundesumweltministerium blamiert sich: Nordsee erwärmt sich NICHT schneller als die Ozeane„). Da hier ganz offensichtlich wissenschaftlich einiges im argen lag, wandte sich Sebastian Lüning kurzerhand an den NDR-Rundfunkrat mit Bitte um Klärung:

Sehr geehrte Damen und Herren,

Am 9.9.2017 berichteten Sie in der Tagesschau über die Erwärmung der Nordsee, die angeblich doppelt so schnell abläuft wie im Rest der Weltozeane. http://www.tagesschau.de/inland/nordsee-temperatur-101.html

Dabei stützten Sie sich auf die Antwort des Bundesumweltministeriums anlässlich einer Kleinen Anfrage der Grünen. Leider ist die Aussage aus wissenschaftlicher Sicht falsch. Die Entwicklung der Nordseetemperaturen ist 2016 in einer umfassenden Analyse des Helmholtz-Zentrum Geesthacht dargestellt worden (Fig. 3.3 in Quante & Colijn, https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-319-39745-0 ). Der Temperaturanstieg während er letzten 45 Jahre (seit Beginn der 1970er Jahre) beträgt laut Temperaturkurve im Buch lediglich wenige Zehntelgrad (z.B. rote Kurve, ERSSTv3b). Nach Glättung von Effekten durch Ozeanzyklen im Zusammenhang mit der Nordatlantischen Oszillation kommt für die Nordsee eine ähnliche Erwärmungsrate heraus wie für die globalen Ozeane. Graphiken und Analyse hier: http://kaltesonne.de/?p=45770

Ich möchte Sie bitten, die fehlerhaften Zahlen in einem überarbeiteten neuen Beitrag an gleicher Stelle zu korrigieren. Das Bundesumweltministerium hat hier leider falsch informiert, was dem Tagesschau-Team im Rahmen des allgemeinen Faktenchecks hätte auffallen müssen. Die fehlerhafte Berichterstattung ist besonders ärgerlich, da sie im Vorfeld der Bundestagswahlen stattfindet und den Grünen auf Kosten von CDU und SPD eine Bühne bietet. Insofern sollten Sie mit Ihrer Korrektur auch nicht bis nach der Bundestagswahl warten. 

Mit freundlichen Grüßen

Dr. habil. Sebastian Lüning

Es dauerte nur eine Woche, bis der Schlitz im elektronischen Briefkasten klapperte. Marcus Bornheim, Zweiter Chefredakteur ARD-aktuell ging auf den Fall ein und schrieb:

 

 

Zunächst einmal vielen Dank an Herrn Bornheim, dass er die Kritik ernst nimmt und die Beweggründe der ARD-Redaktion darlegt, auch wenn die Antwort aus inhaltlicher Sicht nicht überzeugt. Herr Bornheim erlaubte uns dankenswerterweise den Abdruck seines Schreibens hier im Blog. Sein Antwortschreiben wurde von Günter Hörmann, dem Vorsitzender NDR Rundfunkrat per Email zugesandt, dem Sebastian Lüning die verbliebenen Ungereimtheiten in einer Folgeemail mitteilte:

Sehr geehrter Herr Dr. Hörmann,

Ganz herzlichen Dank für die schnelle Bearbeitung meiner Kritik.

1) Herr Bornheim erklärt, es sei lediglich um die deutsche Nordsee gegangen. Dies verwundert, da diese starke Einschränkung aus dem Titel und dem ersten Teil der Meldung keinesfalls hervorgeht:

Nordsee erwärmt sich schneller als Ozeane
Die Nordsee ist stärker als die Ozeane von der Erwärmung der Meere betroffen. Dort stieg innerhalb der vergangenen 45 Jahre die Durchschnittstemperatur um 1,67 Grad, während es bei den Ozeanen 0,74 Grad waren. Das hat Folgen.
Die Nordsee hat sich in den vergangenen 45 Jahren doppelt so schnell erwärmt wie die Ozeane. […].”
http://www.tagesschau.de/inland/nordsee-temperatur-101.html

Es reicht selbstredend nicht aus, die starke regionale Einschränkung erst im zweiten Teil der Meldung zu tätigen, wenn ein Großteil der Leser vermutlich schon zum nächsten Artikel gesprungen ist.

2) Des weiteren ist es unerklärlich, weshalb in einem Beitrag von 2017 lediglich Daten bis 2010 verwendet werden, insbesondere wenn es genau in jenem Jahr eine Trendwende in der Temperaturentwicklung gegeben hat, die offenbar bewusst ausgeklammert wurde – womöglich, um den Trend dramatischer aussehen zu lassen als er in Wirklichkeit ist. An mangelnden Daten kann es nicht gelegen haben, denn die liegen tagesaktuell vor. Außerdem hätte auf jeden Fall die kürzliche Geesthachter Nordseestudie verwendet werden müssen.

3) Schließlich ist die Angabe des Zeitraums “in den vergangenen 45 Jahrenin Ihrem Artikel von 2017 offensichtlich falsch, wenn Herr Bornheim in seiner Entgegnung nun von einem Startpunkt 1962 spricht (vorletzter Absatz seines Schreibens). 

Ich hoffe, dass der Gedankenaustausch Ihre Redaktion dazu motiviert, die Fakten ähnlicher Beiträge in Zukunft genauer zu prüfen, bevor sie ausgestrahlt werden. Dies wäre umso wichtiger, da es sich beim Klimawandel um ein politisch hochsensibles Thema handelt, bei dem eine präzise und korrekte Darstellung der Fakten unverzichtbar ist. Im Sinne der Transparenz würde ich die Antwort von Herrn Bornheim gerne im Blog www.kaltesonne.de veröffentlichen. Es wäre schön, wenn ich dazu Ihre Erlaubnis erhalten könnte.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Sebastian Lüning

Zum Abschluss der Korrespondenz versicherte Marcus Bornheim, dass die Anregungen gehört wurden und durchaus in die zukünftige redaktionelle Arbeit einfließen könnten.

Fazit: Es ist wichtig, auf Mißstände in der Klimadiskussion hinzuweisen. Ausgangspukt in diesem Punkt waren fragwürdige Aussagen des Bundesumweltministeriums. Auch Ministerien müssen sich der Kritik stellen. Die ungeprüfte Weiterverbreitung von schlampig recherchierten oder aufgebauschten Meldungen ist das zweite große Problem. Erwähnt sei noch, dass nicht nur die Tagesschau auf die Ministeriumsmeldung hereinfiel, sondern eine Vielzahl von Medien. Es scheint also im digitalen Zeitalter ein grundsätzliches Problem in den Medien mit dem Faktencheck zu geben. Unser Tip zur Klimaberichterstattung: Lieber etwas später berichten, nachdem die Fakten klar sind, anstatt sofort mit copy-paste auf Sendung zu gehen. Die Klimadiskussion ist hochpolitisch, da sollte man durchaus zunächst ein wenig hinter die Kulissen leuchten, bevor man Aussagen für bare Münze nimmt.