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Am 4. Dezember 2015 erregte das Earth Institute der New Yorker Columbia University Aufsehen mit einer provokanten Pressemitteilung: Die Besiedelung Grönlands durch die Wikinger ab 985 n. Chr. hätte rein gar nichts mit dem Klima zu tun.
Study Undercuts Idea That ‚Medieval Warm Period‘ Was Global
Vikings May Not Have Colonized Greenland in Nice Weather
Anstatt mildem Klima der Mittelalterlichen Wärmeperiode (MWP) wäre es in Grönland vielmehr so kalt gewesen, dass sich Gletschervorschübe ereigneten. Ein Team um den Glaziologen Nicolás Young hätte nun auf der Grönland westlich vorgelagerten Baffininsel den Beweis hierfür gefunden. Die MWP wäre daher wohl doch nur ein lokales europäisches Phänomen:
“It’s becoming clearer that the Medieval Warm Period was patchy, not global,” said lead author Nicolás Young, a glacial geologist at Columbia University’s Lamont-Doherty Earth Observatory. “The concept is Eurocentric—that’s where the best-known observations were made. Elsewhere, the climate might not have been the same.”
In der Pressemitteilung zeigte man sich überzeugt, die Studie habe dem MWP-Konzept nun endgültig den Gnadenstoß versetzt:
Gifford Miller, a paleoclimatologist at the University of Colorado, called the paper “a coup de grace on the Medieval Warm Period.” Miller said it shows “with great clarity of evidence” that “the idea of a consistently warm Medieval period is certainly an oversimplification and of little utility.”
Es verwundert schon, dass die Columbia University eine solch emotionale und kämpferische Pressemitteilung überhaupt durchgehen ließ. Mediale Aufmerksamkeit um jeden Preis? Die Presse schien dies zu spüren und griff das Thema nur zögernd auf. So berichtete der Toronto Star erst am 14. Dezember 2015, mehr als zehn Tage nach der Pressemitteilung. Im Titel des Artikels machte man zudem kenntlich, dass es sich nicht unbedingt um gesichertes Wissen handelt, sondern den Vorschlag einer einzelnen Wissenschaftlergruppe („study suggests“):
Climate change didn’t force Vikings to abandon Greenland, study suggests
Die International Business Times verwendete sogar den Begriff „behaupten“ (claim) in ihrer Überschrift:
Climate change did not force Vikings to abandon Greenland, claim scientists
In der deutschsprachigen Presse suchte man Berichte zur Baffin-Arbeit vergebens. Hatte man auch hier bemerkt, dass hier etwas faul sein könnte? Allein Scinexx.de stieg relativ groß ein und verbreitete die Story, schön bebildert, Wiki läßt schön grüßen:
Grönland: Verschwinden der Wikinger bleibt rätselhaft
Neue Messungen sprechen gegen eine plötzliche Abkühlung des Klimas als Ursache
Sind die Ergebnisse der neuen Studie wirklich so robust wie von der Columbia University dargestellt, dass solch weitreichende Schlussfolgerungen mit letzter Sicherheit gezogen werden können? Ein Fall für das MWP-Kartierprojekt! Im Folgenden wollen wir die Studie und Pressemeldung auf Herz und Nieren checken. Was ist dran an der Behauptung der Mittelalterlichen Kälteperiode auf Grönland?
Der guten Ordnung halber zunächst einmal die die Kurzfassung der betreffenden Arbeit von Young und Kollegen, die am 4. Dezember 2015 in Science Advances erschien, einer Schwesterzeitschrift von Science:
Glacier maxima in Baffin Bay during the Medieval Warm Period coeval with Norse settlement
The climatic mechanisms driving the shift from the Medieval Warm Period (MWP) to the Little Ice Age (LIA) in the North Atlantic region are debated. We use cosmogenic beryllium-10 dating to develop a moraine chronology with century-scale resolution over the last millennium and show that alpine glaciers in Baffin Island and western Greenland were at or near their maximum LIA configurations during the proposed general timing of the MWP. Complimentary paleoclimate proxy data suggest that the western North Atlantic region remained cool, whereas the eastern North Atlantic region was comparatively warmer during the MWP—a dipole pattern compatible with a persistent positive phase of the North Atlantic Oscillation. These results demonstrate that over the last millennium, glaciers approached their eventual LIA maxima before what is considered the classic LIA in the Northern Hemisphere. Furthermore, a relatively cool western North Atlantic region during the MWP has implications for understanding Norse migration patterns during the MWP. Our results, paired with other regional climate records, point to nonclimatic factors as contributing to the Norse exodus from the western North Atlantic region.
Wir haben die Arbeit von Young et al. speziell zum Anlass genommen, die MWP-Kartierung im Bereich Kanadas und Grönlands voranzutreiben. Nach drei Wochen Kartierarbeit sind nun die wichtigsten Studien erfasst und erlauben uns, die neue Baffin-Publikation im Kontext der Literatur-Gesamtlage zu bewerten. Die Baffininsel liegt wie erwähnt westlich von Grönland. Wir werden im Folgenden Studien aus der nordöstlichen kanadischen Arktis sowie der Westküste von Grönland heranziehen. In der untenstehenden Karte (Abbildung 1) sind alle relevanten Papers aufgeführt und zur Vereinfachung der Diskussion durchnummeriert. Die Karte lässt sich auch in Google Maps öffnen, wo die Punkte interaktiv geklickt werden können, wobei Zusatzinformationen wie Zeitschriftenlink, Methodik, MWP-Analyse und die wichtigste Abbildung erscheinen. Rote Punkte markieren Studien, in denen die MWP als Warmphase ausgebildet war, blaue Punkte markieren Arbeiten, in denen die MWP als kalt beschrieben wurde. Der kühle blaue Punkt mit der Nummer 1 steht für die neue Arbeit von Young und Kollegen.
Zunächst einmal ist erkennbar, dass es in dem gesamten Kartenausschnitt nur zwei blaue Punkte und eine Vielzahl von roten gibt. Die MWP-Warmphase ist also aus der Region ausführlich beschrieben. Da ist es schon reichlich vermessen, auf Basis einer einzigen neuen Arbeit plötzlich die MWP in Kanada/Grönland und sogar weltweit in Frage zu stellen. Hatte man vielleicht gehofft, die Öffentlichkeit würde von den anderen Studien aus dem Gebiet schon nichts erfahren?
Abbildung 1: Lagekarte von Studien mit Ergebnissen zur Mittelalterlichen Wärmeperiode (MWP). Zahlen beziehen sich auf die Reihenfolge der Diskussion im Text. Rote Punkte: MWP war warm; blaue Punkte: MWP war kalt. Dazugehörige interaktive Google Maps Karte hier.
Keine Angst, wir wollen Sie hier nicht mit einer ellenlangen Marathonbeschreibung der verschiedenen Studien langweilen. Ein paar Basisdaten wollen wir trotzdem aufführen und uns dann auf die richtig interessanten Aspekte beschränken. Von der Baffininsel selbst sind 10 MWP-Studienlokationen bekannt:
(2) Im Nordwesten der Insel illustrierten Briner et al. 2009 auf Basis anderer Arbeiten eine prominente Gletscherrückzugsphase, die sich dort 800-1200 n.Chr. ereignete – also genau zur Zeit der MWP, als die Wikinger das benachbarte Grönland besiedelten.
(3) Anderson et al. 2008 datierten vom Gletscher überfahrene Vegetation und fanden eine Warmphase 1000-1250 n.Chr. Ab 1280 n.Chr. dokumentierten sie eine starke Abkühlung und Vorrücken von Gletschern.
(4) Dieser Punkt steht für 94 Gletscherfront-Lokationen auf Baffin Island, die Miller et al. 2012a untersuchten. Ergebnis: Eine Warmphase 950-1275 n.Chr. Die Kälte der Kleinen Eiszeit und Eiswachstum begann abrupt zwischen 1275-1300 n.Chr., die sich um 1430-1455 n.Chr. noch einmal intensivierte.
(5) Studienpunkt 5 namens ‚Big Round Lake‘ liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zum Young-et-al-Studiengebiet. Thomas & Briner 2009 beschrieben hier eine Warmphase für die Zeit 970–1150 n.Chr, die aber angeblich mehr als ein Grad unter den heutigen Temperaturen gelegen haben soll. Stutzig macht die Methodik, mit der Thomas & Briner diese Erkenntnis erlangt haben wollen. Die Forscher vermaßen die Schichtdicke von sogenannten Warven, also jahreszeitlich geschichteten Seensedimenten. Dabei fanden sie für die vergangenen Jahrzehnte eine schöne Korrelation zwischen Sommertemperaturen und Schichtmächtigkeit. Dickere Schichten fielen mit warmen Temperaturen zusammen. Ein empirischer Befund. Unklar ist nun, ob dieser Zusammenhang auch für die letzten 1000 Jahre gilt. Thomas & Briner 2009 nahmen dies zunächst mutig an. Allerdings weisen Vergleiche mit anderen Untersuchungsgebieten nun darauf hin, dass die Forscher hier wohl falsch lagen. Früher führten warme Sommertemperaturen offenbar zu dünneren Lagen. Steve McIntyre zeigte in seinem Climate Audit-Blog hierzu eine schöne Analyse. Auch Balascio et al. 2015 scheinen die Warven-Daten mittlerweile uminterpretiert zu haben und sehen die recht dünnen Varven im Big Round Lake zwischen 1000-1400 n.Chr. als Hinweis auf warme Temperaturen und eine gut ausgebildete MWP. Lediglich zwischen 1200-1300 n.Chr. nimmt die Varvendicke etwas zu, was auf eine kühlere Zwischenepisode hinweisen könnte. Dies sind die Zusammenhänge und Stories, die erst bei einem tieferen Eintauchen in die Materie zum Vorschein kommen.
(6) Joynt III et al. 2001 untersuchten Diatomeen im Fog Lake und dokumentierten eine Warmphase im Bereich 1000 n.Chr., die etwa 1°C wärmer war als die nachfolgende Kleine Eiszeit.