Pressemitteilung der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung vom 12. Mai 2015:
Verlust der Artenvielfalt: Klimawandel zweitrangig
Wissenschaftler des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum und des Forschungsinstituts Senckenberg in Gelnhausen haben erstmals die Auswirkungen des Landnutzungswandels auf die Artenvielfalt in Fließgewässern modelliert. Ihre Ergebnisse zeigen, dass der Verlust der Biodiversität deutlich stärker durch den Wandel der Landnutzung verursacht wird als durch den globalen Klimawandel. Schutzkonzepte für das wertvolle Ökosystem und die in strömenden Gewässern lebenden Organismen sollten daher angepasst werden. Die Studie ist kürzlich online im Fachjournal „Freshwater Biology“ erschienen.
Flüsse und Bäche sind von der Quelle bis zur Mündung ständig in Bewegung und gehören zu den dynamischsten Lebensräumen der Erde. Obwohl sie nur wenige Prozent der Landfläche einnehmen, beherbergen diese Ökosysteme im naturnahen Zustand eine große Vielzahl an Lebewesen: Insekte, Fische, Algen, Muscheln und Wasserflöhe sind nur einige der Bewohner fließender Gewässer. „Doch Fließgewässer sind auch gleichzeitig die gefährdetsten Ökosysteme weltweit“, warnt Dr. Mathias Kuemmerlen aus der Abteilung für Fließgewässerökologie und Naturschutzforschung des Forschungsinstituts Senckenberg in Gelnhausen. Er ergänzt: „Wie kein anderer Lebensraum reagieren Fließgewässer besonders sensibel auf Umweltveränderungen.“
Der Gelnhausener Biologe hat gemeinsam mit chinesischen und deutschen Kollegen die Fließgewässer eines gut 1700 Quadratkilometer großen Einzugsgebietes in Südchina, das im Einzugsgebiet des Jangtsekiang-Flusses liegt, untersucht. „Wir haben erstmals die Artenvielfalt in Fließgewässern in Verbindung mit dem Wandel der Landnutzung für die Zukunft modelliert“, erklärt Dr. Sonja Jähnig, die am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin forscht und die Studie initiiert hat. Und sie fügt hinzu: „Biodiversitätsverlust wird sehr häufig in Bezug auf den globalen Klimawandel untersucht. Weitere wichtige anthropogene Einflüsse auf die Umwelt – wie der Wandel der Landnutzung – werden dabei oft vernachlässigt.“
Das Wissenschaftlerteam um Kuemmerlen hat daher drei Szenarien für die Entwicklung von in Fließgewässern lebenden Makroinvertebraten – Tiere ohne Wirbelsäule, die man mit bloßem Auge erkennen kann – für die Jahre 2021 bis 2050 modelliert: Die Änderung des Klimas, ein Wandel der Landnutzung und ein kombiniertes Klima- und Landnutzungswandel-Szenario. „Mithilfe unserer Ergebnisse können wir die Veränderungen in den Lebensgemeinschaften wirbelloser Tiere künftig besser verstehen“, so Jähnig.
Die 72 untersuchten in Fließgewässern lebenden Organismen verhalten sich in den Modellen sehr unterschiedlich: Die im Wasser lebende Steinfliege Togoperla sp. verliert beispielsweise im Zuge des Landnutzungswandels 85 Prozent ihres Verbreitungsgebietes in dem untersuchten Einzugsgebiet und ist damit lokal vom Aussterben bedroht. Die Kleinlibelle Protoneuridae sp. dagegen gewinnt 9 Prozent potentiellen Lebensraum hinzu. „Es gibt in allen unseren Modellen ‚Verlierer‘ und ‚Gewinner‘, beim Landnutzungs-, so wie beim Klimawandel. Doch artenübergreifend lässt sich sagen, dass der Wandel der Landnutzung den stärksten negativen Effekt auf die Artenvielfalt in Fließgewässern hat – in diesem Modell nahm die lokale Biodiversität um 20 Prozent ab“, erläutert Kuemmerlen.
Der Klimawandel ist in den Modellen der Wissenschaftler in der Auswirkung auf die Biodiversität in Fließgewässern eher zweitrangig. Kuemmerlen erklärt: „Fließgewässer stehen in einem sehr engen Zusammenhang mit der Landschaft im Einzugsgebiet. Die Artengemeinschaft wird daher sehr stark von der Landnutzung beeinflusst.“ Die Modellergebnisse zeigen außerdem, dass Landnutzungs- und Klimawandel zusammen eine allgemeine Minderung der lokalen Artenvielfalt verursachen könnten. Zudem ist mit Verschiebungen in den Verbreitungsgebieten vieler aquatischer Makroinvertebraten zu rechnen.
Obwohl der Wandel der Landnutzung, beispielsweise die Rodung von Wäldern für die landwirtschaftliche Nutzung, die offensichtlichste Veränderung innerhalb eines Ökosystems ist, wird dieser Faktor laut Kuemmerlen bei der Entwicklung von Schutzkonzepten zu wenig berücksichtigt. „Um die Artenvielfalt zu erhalten, müssen sowohl Änderungen im globalen Klima als auch bei der Landnutzung berücksichtigt werden“, fasst er zusammen.
Publikation:
Kuemmerlen, M., Schmalz, B., Cai, Q., Haase, P., Fohrer, N. and Jähnig, S. C. (2015), An attack on two fronts: predicting how changes in land use and climate affect the distribution of stream macroinvertebrates. Freshwater Biology. doi: 10.1111/fwb.12580
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Siehe auch Artikel im Standard und auf Scinexx sowie Interview im Deutschlandfunk.