Hilfe, der westantarktische Pine-Island-Gletscher schmilzt unaufhaltsam! British Antarctic Survey gibt Entwarnung: In den letzten 300 Jahren hat es in der Gletscherregion sogar noch intensivere Erwärmungsepisoden gegeben als heute

Schocknachricht in der Welt vom 14. Januar 2014:

Riesiger Antarktis-Gletscher schmilzt unaufhaltsam
Der Pine-Island-Gletscher in der Antarktis schrumpft laut einer Studie „irreversibel“. Wissenschaftler erwarten, dass der Meeresspiegel aufgrund der Schmelze dieses Gletschers enorm steigen werde. […] Internationale Wissenschaftler von der Universität Grenoble erwarten, dass der schrumpfende Gletscher das Meeresniveau in zwanzig Jahren um bis zu einen Zentimeter ansteigen lassen könne. Die „Abnahme“ des Gletschers sei „irreversibel“. Der Gletscher befindet sich im Westen der Antarktis. Seit Beginn des Jahrtausends sei er rund zehn Kilometer kürzer geworden, schreiben die Forscher vom Institut für Gletscherforschung und Geophysik. In den vergangenen Jahrzehnten habe sich die Schmelze beschleunigt. Im Durchschnitt seien in den Jahren von 1992 bis 2011 pro Jahr 20 Milliarden Tonnen Eis geschmolzen. Insgesamt habe die westliche Antarktis-Eisdecke dadurch bis heute rund 20 Prozent abgenommen.

Das hört sich dramatisch an. Allerdings hätte die Welt gerne auch über eine andere aktuelle Arbeit berichten können, die sich derzeit im Journal of Geophysical Research im Druck befindet. Eine Forschergruppe um L.H. Beem von der University of California in Santa Cruz studiert in der Arbeit einen anderen Gletscher der Westantarktis, die Whillans ice stream Ice Plain. Zu ihrer Überraschung fanden die Wissenschaftler, dass sich der Gletscher innerhalb der letzten 50 Jahre verlangsamt hat, das Gegenteil dessen was man bei einer westantarktischen Schmelzkatastrophe erwarten würde.

Gerne hätte Die Welt auch einen Artikel vom Oktober 2013 aus den Geophysical Research Letters mit dem Titel „A 308 year record of climate variability in West Antarctica“ heranziehen können. Eine Forschergruppe des British Antarctic Survey und der University of Cambridge um Elizabeth Thomas erbohrte einen Eiskern in unmittelbarer Nähe zum Pine-Island-Gletscher, um das aktuelle Geschehen in einen historischen Kontext zu setzen. Mithilfe von Isotopen rekonstruierten Thomas und Kollegen die Temperaturgeschichte der Region für die vergangenen mehr als 300 Jahre. Überraschenderweise stellten die Autoren fest, dass die seit 1950 am Pine-Island-Gletscher festgestellte Erwärmungsrate in ähnlicher Weise bereits Mitte des 19. Jahrhunderts sowie im 18. Jahrhundert aufgetreten ist. Teilweise waren diese Erwärmungstrends sogar noch ausgeprägter wie Elizabeth Thomas der Presse gegenüber erläuterte:

“The new record captures climate variability in this globally important region and suggests that the warming observed here since the 1950s is not the largest in the past 300 years.”

Offensichtlich bewegt sich die Erwärmung am Pine Gletscher noch voll umfänglich im Bereich der natürlichen Schwankungsbreite, ein Umstand, den Die Welt ihren Lesern aus unerfindlichen Gründen vorenthält. Im Folgenden die Kurzfassung der Arbeit:

We present a new stable isotope record from Ellsworth Land which provides a valuable 308 year record (1702–2009) of climate variability from coastal West Antarctica. Climate variability at this site is strongly forced by sea surface temperatures and atmospheric pressure in the tropical Pacific and related to local sea ice conditions. The record shows that this region has warmed since the late 1950s, at a similar magnitude to that observed in the Antarctic Peninsula and central West Antarctica; however, this warming trend is not unique. More dramatic isotopic warming (and cooling) trends occurred in the mid-nineteenth and eighteenth centuries, suggesting that at present, the effect of anthropogenic climate drivers at this location has not exceeded the natural range of climate variability in the context of the past ~300 years.

Im Februar 2014 erscheint zudem in den Quaternary Science Reviews eine Arbeit einer Gruppe um Alexandra Witus von der Rice University im texanischen Houston. Diese Forscher fanden für die vergangenen 10.000 Jahre am Pine-Island-Gletscher gleich drei Episoden, während derer das Eis rasch abschmolz.

Auch sei die Frage erlaubt, wie die neue Schock-Nachricht vom Pine-Island-Gletscher eigentlich zu anderen Studien passt, die ein deutlich langsameres Abschmelzen der Antarktis dokumentieren, als zuvor angenommen (siehe unsere Blogartikel „Antarktischer Eissschild schmilzt wohl doch langsamer als gedacht„, „Neue ICEsat-Satellitendaten sind da: Antarktischer Eisschild hat an Masse zugelegt„, „Nacheiszeitliche Temperaturen der antarktischen Halbinsel lagen 7000 Jahre lang auf dem heutigen Niveau“ und „Klimakatastrophe macht wohl einen Bogen um die Antarktis„.

Abschließend wollen wir noch einmal in den Originaltext der Welt-Meldung schauen. Dort werden Zahlen genannt, die aufhorchen lassen:

Im Durchschnitt seien in den Jahren von 1992 bis 2011 pro Jahr 20 Milliarden Tonnen Eis geschmolzen. Insgesamt habe die westliche Antarktis-Eisdecke dadurch bis heute rund 20 Prozent abgenommen.

Zwanzig Prozent Eisverlust in der Westantarktis in nur zwanzig Jahren! In der Tat ein besorgniserregender Wert. Deswegen wollen wir ihn gerne nochmal Schritt für Schritt überprüfen:

1) Die Westantarktis hat ein Eisvolumen von etwa 2,2 Millionen Kubikkilometern.

2) Wenn in 20 Jahren pro Jahr 20 Milliarden Tonnen geschmolzen sind, dann sind das 400 Milliarden Kubikmeter. Umgerechnet sind dies 400 Kubikkilometer.

3) Wieviel Prozent sind 400 abgeschmolzene Kubikkilometer im Vergleich zur Gesamteismenge von 2.2 Millionen Kubikkilometer? Überraschung, das sind nicht 20%, sondern lediglich 0,018%.

Setzen, sechs.

 

Foto: Polargeo / public domain.
Hinweis: In einer früheren Version zur abschließenden Rechnung hatten wir zwei Nachkommanullen zu viel stehen. Christian Bästlein wies uns auf den bedauernswerten Fehler hin, der jetzt korrigiert ist. Er kommentierte dazu trocken "Das war auch keine 1 !". Recht hat er. Augen auf im Rechenverkehr! Zudem schlug Pierre Gosselin vor, das wissenschaftlich bekannte Eisvolumen der Westantarktis zu wählen, anstatt eine Näherungsrechnung zu verwenden. Auch dies ist jetzt berücksichtigt.