Die liebe große Schwester des kleinen bösen Bruders: Was macht eigentlich die Forschung zur Ozeanversauerung?

Redakteur Christopher Schrader unterhielt seine Leserschaft in der Süddeutschen Zeitung am 8. Oktober 2014 mit einem herzzerreißenden klimatischen Familiendrama:

Ozeanversauerung: Der böse kleine Bruder der Klimaerwärmung
Neben der Erwärmung der Atmosphäre ist die Versauerung des Ozeans eine bedrohliche Folge des Klimawandels. Ein internationales Team von Forschern warnt jetzt vor den unabsehbaren Folgen, die das für die belebte Natur in den Meeren und darüber hinaus haben könnte. Die Versauerung des Wassers sei eine „ernste Bedrohung“, heißt es in einem Sachstandsbericht, den die Forscher am Mittwoch auf der Konferenz der Vertragsstaaten der Biodiversitätskonvention (CBD) in Pyeongchang/Südkorea vorlegen. Das veränderte chemische Milieu steigere die Effekte des wärmeren, teils auch sauerstoffärmeren Wassers. Die Versauerung sei der „böse kleine Bruder der Klimaerwärmung“, sagt Felix Mark vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven, einer der Leitautoren des Berichts. „Nach dem, was wir momentan beobachten, sieht es danach aus, dass wir auf tief greifende Veränderungen zusteuern.“

Wenn die Ozeanversauerung der böse kleine Bruder ist, dann muss wohl die Klimaerwärmung die liebe große Schwester sein, denn die Temperaturen sind seit nunmehr 16 Jahren kein bisschen mehr gestiegen. Die Gefahr einer außer Kontrolle geratenen Hitzeaufschaukelung scheint daher vorerst vom Tisch. Es musste natürliche schnellstmöglich Ersatz her, um das Schreckensbild der Klimakatastrophe aufrechterhalten zu können. Da kam das Konstrukt eines immer stärker ätzenden Ursuppenozeans gerade recht.

In den ersten Jahren nach Erfindung der sauren Klimagefahr war man noch enthusiastisch. Die Forscher gingen von einer pauschalen Schädigung der gesamten Meeresfauna und -flora aus. Als man dann aber im Labor anfing, die diversen Tier- und Pflanzengruppen detailliert durchzutesten, gab es böse Überraschungen. Einige Organismen hielten sich einfach nicht an das Katastrophenkonzept und empfanden saurere Wässer mit niedrigerem pH-Wert sogar als so angenehm, dass sie deutlich besser gediehen als unter Normalbedingungen. Bereits im April 2012 hatten wir an dieser Stelle auf etliche dieser unerwarteten Resultate hingewiesen (siehe unseren Beitrag „Welche Rolle spielt die Ozeanversauerung? Eine Wissenschaftssparte mit noch vielen Fragezeichen“). Im Oktober 2014 ging unser Autor Dr. D. E. Koelle erneut auf das Thema ein.

In den kommenden Tagen wollen wir im Rahmen einer losen Artikelserie den Forschungsfortschritt in diesem Fach systematisch beleuchten. Was hat sich getan, in welche Richtung steuert das Schiff? Der Wissenschaftszweig der Ozeanversauerung entwickelt sich momentan rasant. Ulf Riebesell und Jean-Pierre Gattuso erinnern in einer im Januar 2015 im Fachmagazin Nature Climate Change erschienenen Studie daran, dass noch vor zehn Jahren (2005) die Ozeanversauerung als mögliches Problem nur einem engen Fachkreis bekannt war. Nun habe sich das Gebiet jedoch zu einem enormen wissenschaftlichen Wachstumsfeld entwickelt und gehört mittlerweile zu den drei wichtigsten Meeresforschungsthemen. Die Zahlen machen es deutlich: Die Hälfte aller wissenschaftlichen Abhandlungen zur Ozeanversauerung erschienen in den letzten dreieinhalb Jahren (2011-2015). Riebesell und Gattuso schreiben im Original:

Research on ocean acidification has gone through a remarkable surge over the past decade. Known to only a small number of researchers ten years ago, the issue of ocean acidification has developed into one of the fastest growing fields of research in marine sciences, and is among the top three global ocean research priorities1. Notably, 50% of the papers have been published in the last three and half years, two-thirds of which deal with biological responses.

 

Böser Bruder XY ungelöst

Im Grundsatz lohnt es sich durchaus, das Problem der Ozeanversauerung zu erforschen, um die hieraus entspringenden möglichen Gefahren besser abschätzen zu können. Es ist kein Geheimnis, dass Kalk durch Säuren aufgelöst werden kann. So führen Geologen bei ihren Feldarbeiten im Gelände stets ein kleines Fläschchen stark verdünnter Salzsäure mit, um Kalke von anderen Gesteinstypen sauber unterscheiden zu können. Bei dem Test wird auf das zu testende Gestein ein Tröpfchen der Säure gegeben. Sprudelt es daraufhin auf der Gesteinsoberfläche, so handelt es sich um einen Kalkstein. Bleibt alles ruhig, muss es sich um ein nichtkalkiges Gestein handeln.

Im Extremfall ist daher einzusehen, dass die Kalkproduktion im Ozean leiden könnte. Nun sind die realen Bedingungen in den Meeren jedoch weit von solchen Horror-Szenarien entfernt. Zwar sind die Ozeane in den letzten Jahrzehnten in der Tat leicht „saurer“ geworden, jedoch bewegen sich die Bedingungen mit pH-Werten zwischen 7,8 bis 8,1 noch ganz klar im basischen Bereich. Der Umschlag von Base zu Säure findet bekanntlich erst bei einem pH-Wert von 7,0 statt. Der Begriff „Versauerung“ ist daher in diesem Zusammenhang etwas irreführend. Das wäre das Gleiche als wenn man einen Millionär, der soeben tausend Euro verloren hat, mit „Verarmung“ beschreibt. Der reiche Mann ist ja nicht arm geworden, sondern nur „ärmer“.

Es ist durchaus plausibel, dass die leicht fallenden pH-Werte der Weltozeane eine Folge des gesteigerten CO2-Gehalts in der Atmosphäre sind. Wenn aus der Atmosphäre mehr Kohlendioxidmoleküle auf die Meeresoberfläche drücken, dann wird auch mehr CO2 letztendlich in das Ozeanwasser eindringen, bis ein neues Gleichgewicht geschaffen ist. Soweit so gut. Nun wissen wir aber auch, dass im Erdmittelalter der Trias-, Jura- und Kreidezeit vor einigen hundert Millionen Jahren die CO2-Konzentration der Atmosphäre um ein Vielfaches höher lag als heute. Und gerade diese Zeit war aus geologischer Sicht äußerst kalkreich. Den Organismen scheinen die reduzierten pH-Werte offensichtlich nicht geschadet zu haben. Ganz im Gegenteil, einigen Ozeanbewohnern wie den Korallen taten diese Bedingungen offenbar so gut, dass sie sich massenweise in den warmen Flachmeeren ausbreiteten.

Irgendetwas scheint daher an der pauschalen Annahme falsch zu sein, dass eine leichte Versauerung eine große Gefahr für das Leben im Meer darstellen könnte. Was haben die Gründer der Versauerungstheorie übersehen? Besitzen die Organismen viel stärker entwickelte Anpassungsfähigkeiten an die geänderten Bedingungen als vormals für möglich gehalten? Wer profitiert vielleicht sogar von einer Versauerung?

Wir begeben uns auf Spurensuche und lesen etwas genauer in einer Pressemitteilung des AWI vom 8. Oktober 2014, die Auslöser von Christopher Schraders SZ-Artikel war. Auch dort wird kräftig der Versauerungsteufel an die Wand gemalt, allerdings gibt es fairerweise auch eine ganze Reihe von Hinweisen auf Profiteure der Versauerung bzw. auf Organismen, denen die Entwicklung herzlich egal ist:

Enorme Fortschritte in der Ozeanversauerungsforschung: Neuer Bericht fasst aktuellen Stand des Wissens zusammen
Noch nie zuvor erforschten so viele Wissenschaftler wie sich der sinkende pH-Wert des Meerwassers auf Tiere und Pflanzen im Ozean auswirkt. Ihre Ergebnisse haben die Experten jetzt für den zweiten Ozeanversauerungsbericht der Biodiversitäts-Konvention (CBD – Convention on Biological Diversity) zusammengetragen, der heute auf der zwölften CBD-Konferenz der Vertragsstaaten vorgestellt wird. […]  Zu ihren wichtigsten Erkenntnissen gehört […]  aber auch, dass jede Art ganz unterschiedlich auf saureres Wasser reagiert und einige sogar davon profitieren – wie beispielsweise Seegräser, die das zusätzliche Kohlendioxid zur Photosynthese nutzen. […]  Weniger empfindlich dagegen ist eine der wichtigsten Futterarten des Polardorsches, die so genannten Ruderfußkrebse, wie AWI-Wissenschaftlerin und Co-Autorin Dr. Barbara Niehoff herausgefunden hat. „Selbst bei extrem hohen Kohlendioxid-Konzentrationen, die weit über dem heutigen Wert liegen, weisen die Tiere keine nennenswerten Reaktionen auf“, erzählt die Biologin. (Mehr über die Widerstandsfähigkeit von Ruderfußkrebsen lesen Sie hier.). Diese Fülle an neuen Ergebnissen haben Wissenschaftler aus zwölf Ländern jetzt für den neuen CBD-Bericht zur Ozeanversauerung zusammengefasst. Meeresbewohner, die gar nicht, nur in sehr geringem Maße oder sogar positiv auf die Ozeanversauerung reagieren, sind darin allerdings nur Randfiguren. Wie schon vor fünf Jahren widmet sich der Bericht vor allem Arten, die sich nur schwer an das saurere Wasser anpassen können – insbesondere Korallen.

Ein neues Zeitalter in der Ozeanversauerungsforschung ist eingeläutet. Zähneknirschend räumt man nun ein, dass es wohl doch nicht ganz so schlimm ist, wie anfangs verbreitet. Allerdings versucht man die positiven Funde als Randentwicklung abzutun. Den Hauptdarstellern des Problemfeldes, den Korallen, ginge es dreckig. Man brauche weiterhin ganz viel Geld, um dieses angeblich brandgefährliche Thema weiter mit riesigen Forschungsteams zu beleuchten. Wenn man sich in der neueren Forschungsliteratur ein wenig auskennt, wird man spätestens an dieser Stelle stutzig. Denn gerade bei den Korallen hat die Forschung in den letzten Jahren eine unerwartete Wendung genommen, wie wir im nächsten Beitrag unserer kleinen Serie dokumentieren wollen. Interessanterweise schweigt sich die deutsche Presselandschaft über diese unbequemen Studien weitgehend aus. Durchs Netz geschlüpft oder bewusst ignoriert?

Abschließend für heute noch einige interessante Originalpassagen aus der Zusammenfassung des vom AWI angesprochenen CBD-Konferenzberichts (pdf hier):

4. Substantial natural biological variability exists in organisms’ responses to pH changes

Metadata analyses, combining results from many experimental studies, show that there are differ­ent, but consistent, patterns in the response of different taxonomic groups to simulated future ocean acidification. There can also be variability in responses within species, depending on interactions with other factors.

[…]

14. Many seaweed (macroalgae) and seagrass species can tolerate, or may benefit from, future ocean acidification

Non-calcifying photosynthetic species, which are frequently abundant near natural CO2 seeps, may benefit from future ocean acidification. Calcifying macroalgae are, however, negatively impacted. High densities of seagrass and fleshy macroalgae can significantly alter the local carbonate chemis­try, with potential benefit for neighbouring ecosystems.

[…]

15. Many phytoplankton could potentially benefit from future ocean acidification

Non-calcifying phytoplankton (e.g., diatoms) can show increased photosynthesis and growth under high CO2 conditions. The response of calcifying phytoplankton (e.g., coccolithophores) is more vari­able, both between and within species. Mesocosm experiments provide insights into the community shifts that might arise through competitive interactions, as well as the balance between increased photosynthesis and decreased calcification. The response of bacterio-plankton to ocean acidification has not been well studied, but altered decomposition rates would have implications for nutrient cycling.