Von Uli Weber
Nehmen wir einmal an, Sie glauben an die universelle Formel für eine bessere Welt und kennen auch den richtigen Weg dorthin. Nehmen wir weiter an, 97 Prozent aller Meinungsmultiplikatoren würden Ihren festen Glauben an diese bessere Welt teilen, könnten dafür aber nur eingängige Glaubensformeln und keine schlüssigen Beweise vorlegen.
Und auf dieser Basis müssten Sie sich nun mit den verbliebenen konterrevolutionären Kräften herumärgern, die ständig irgendwelche Argumente gegen diese politisch und gesellschaftlich voll akzeptierten Glaubenssätze vorbringen. Dabei kommt Ihnen zunächst einmal sehr entgegen, dass die Erkenntnis eine widerborstige Frucht ist, die sich für einen Fachfremden nur sehr mühsam pflücken lässt. Jede Glaubensformel ist dagegen per se ein allgemeinverständliches Konstrukt in der Form „A+B=C“, die für jedermann ganz einfach und schlüssig nachzuvollziehen ist. Die Widerlegung einer Glaubensformel hat dagegen eine geistige „Zahlschranke“. Diese besteht für einen interessierten Betrachter aus der Zumutung, eine längere Abfolge von komplexen Schlüssen und Beweisen eigenständig nachvollziehen zu müssen; beispielsweise sagt „A>B und B<D“ allein ja noch gar nichts über das Verhältnis zwischen „A“ und „D“ aus, obwohl beide in einem direkten Verhältnis zu „B“ stehen, sondern lediglich, dass „B“ die kleinste dieser drei Zahlen ist.
Bei der Abwägung, wie gefährlich eine konterrevolutionäre Infiltration für Ihre Glaubenssätze ist, könnten Sie also eigentlich entspannt darauf vertrauen, dass Ihre Zielgruppe mit ziemlicher Sicherheit das ökonomische Sparsamkeitsprinzip anwenden wird. Denn Sie wissen ja, dass eine Glaubensformel die einfachste und verständlichste Erklärung für hoch komplexe Zusammenhänge liefert. Aber natürlich haben Sie auch Angst vor einer zufälligen Keimübertragung, denn wie leicht könnte ein häretischer Gedanke einen gut Gläubigen mit dem Virus des Zweifels infizieren, der dann wiederum andere ansteckt und die wieder andere – und schon haben Sie eine veritable Glaubensepidemie…
Also schauen Sie in Ihr antiquarisches Handbuch für Desinformation und Zersetzung, denn Sie wissen ja, wer selbst nichts weiß, muss alles glauben. In diesem Handbuch finden Sie das folgende Kochrezept:
(1) Werfe dem Autor grobe fachliche Fehler, mangelnde Qualifikation und/oder eine falsche Gesinnung vor
(2) Ziehe die Kernaussage der konterrevolutionären Argumentation grundsätzlich in Zweifel, gehe dabei aber ja nicht auf irgendwelche fachlichen Details ein, sondern zitiere lieber gegenteilige Meinungen und/oder Gerüchte
(3) Behaupte, es gäbe bereits seit langem eine einzige glaubenskonforme Lösung für die von Dir vertretene/angezweifelte Argumentation, beispielsweise auf der Grundlage einer höheren Moral oder einer wissenschaftlich begutachteten Studie
(4) Verweise den interessierten Leser zum Beweis für Deine glaubensgerechte Lösung auf irgendeinen glaubensstarken Meinungsmultiplikator, die Glaubenskongregation oder Wikipedia
(5) Wiederhole am Ende nochmals die Glaubensformel Deiner reinen Lehre und nenne sie „alternativlos“, weil 97 Prozent aller Meinungsmultiplikatoren ihr bedingungslos folgen
Wenn Sie also ein begeisterter Anhänger dieser einen reinen Lehre sind, dann wären Sie mit diesem Kochrezept jetzt gegen alle Anfechtungen des Bösen gewappnet und können sich beruhigt zurücklehnen. Wenn das aber nicht der Fall sein sollte, dann probieren Sie den hier nachfolgend beschriebenen Indoktrinationsfilter aus. Machen Sie sich also den Spaß und wenden diesen Desinformationskatalog (1)-(5) einmal umgekehrt als Filter (1*)-(5*) auf die real existierende Medienwelt an.
Wir drehen das beschriebene Kochrezept also einfach einmal um: Suchen Sie sich dazu einen beliebigen Fernsehbeitrag oder Online-/Printartikel heraus, der entweder einen modernen Aberglauben hofiert oder dessen Gegner diskreditiert.
Im ersten Fall suchen Sie im betreffenden Text den Bezug auf eine höhere gesellschaftliche Moral oder eine wissenschaftliche Studie, die diesen Aberglauben angeblich voll bestätigt und beginnen Sie nachstehend mit Punkt (3*). Im zweiten Fall suchen Sie eine abwertende ad-hominem-Formulierung zwischen „inkompetent“ und „gekauft“, natürlich ohne dass ein solches Urteil dort überhaupt bewiesen worden wäre, und beginnen Sie nachfolgend bei Punkt (2*).
Sie finden dann:
(1*) Eine abwertende ad-hominem-Aussage nach Punkt (1),
(2*) eine fehlende inhaltliche Auseinandersetzung mit der kritisierten Argumentation und abwertende Aussagen nach Punkt (2),
(3*) emotionale Zustimmung nach Punkt (3) und eine fehlende dialektische Auseinandersetzung mit dem dort ausführlich behandelten alternativlosen Glaubenssatz,
(4*) eine Beweisführung durch Anrufung der reinen Lehre, das persönliche Bekenntnis eines Glaubensgurus oder den Hinweis auf ein aktuelles Glaubensprojekt nach Punkt (4)
(5*) und schließlich das nochmalige herunterbeten des betreffenden Glaubensbekenntnisses und/oder seiner schrecklichen Zukunftsvisionen nach Punkt (5).
Anmerkung: Achten Sie nebenbei auch einmal darauf, welcher Sprachmittel sich diese glaubensbedingte Argumentation bedient. Üblicherweise werden dort Pro- und Contra-Positionen/Argumente aus völlig unterschiedlichen Perspektiven beschrieben, nämlich die Pro-Position als Innen- und die Contra-Position als Außenansicht. Die in solchen Fällen benutzten emotionalen Sprachmittel weisen daher meist auch keine gemeinsame Schnittmenge auf. In einem unabhängigen und seriösen Journalismus war es dagegen einstmals üblich gewesen, konträre Positionen gleichberechtigt aus einer sachlichen und übergeordneten Perspektive zu beschreiben.
Mit dieser Analyse müsste jetzt die inhaltliche Substanz des betreffenden Beitrags/Artikels bereits aufgebraucht sein, auch wenn es zwischen beiden geschilderten Ansätzen natürlich zu den unterschiedlichsten Mischformen kommen wird. Am Ende sind Sie durch die Beschäftigung mit diesem Beitrag/Artikel jedenfalls nicht schlauer geworden, als Sie es vorher schon waren. Ihnen sind dort also gar keine neuen Erkenntnisse vermittelt worden, sondern Sie sind lediglich zum wiederholten Male mit den alternativlosen Glaubensinhalten der betreffenden Heilslehre und/oder deren schrecklichen/überhöhten Zukunftsvisionen konfrontiert worden. Und eine solche, mit missionarischem Eifer vorgetragene, permanente Indoktrination durch eine beliebige Heilslehre führt am Ende für sich allein bereits zu einer dauerhaften Verzerrung der Realität.
Wir sollten die Verantwortung für den Erhalt unserer Kohlenstoff-basierten technischen Zivilisation also niemals in die Hände von irgendwelchen MINT-fernen und glaubensstarken EEG-Befürwortern legen, denn umgekehrt heuert man ja schließlich auch keine Frösche an, um einen Sumpf trocken zu legen…
Foto: Uli Weber