Eines der wichtigen Streitthemen in der Klimadebatte ist der städtische Wärmeinseleffekt (WI-Effekt). Bebauung und Wärmeerzeugung treiben die Temperaturen in den Ballungszentren zusätzlich zum weltweiten Klimawandel nach oben. Das Phänomen fungiert im Englischen auch unter ‚urban heat island‘ (UHI) und ist in der Fachwelt allseits anerkannt. Eine berechtigte aber leider noch weitgehend ungeklärte Frage ist nun, inwieweit der UHI die Langzeittemperaturmessungen bereits beeinflusst hat. Wiewiel UHI steckt wirklich in den Temperaturkurven des Deutschen Wetterdienstes (DWD)?
Dazu müssen wir zunächst klären, ob die offiziellen DWD-Kurven bereits hinsichtlich des UHI korrigiert sind. Vor gut zwei Jahren fragten wir diesbezüglich beim DWD konkret nach und erhielten eine klare Antwort:
Sehr geehrter Herr Lüning,
Vielen Dank für Ihre Nachricht. Die Temperaturwerte werden unkorrigiert, also ohne Berücksichtigung des Wärmeinseleffekts verwendet.
Mit freundlichen Grüßen
[DWD-Diplom-Meteorologin]
Eine UHI-Korrektur hat also seitens des DWD noch nicht stattgefunden. Es stellt sich also die Frage, ob es überhaupt irgendetwas zu korrigieren gibt. Existieren im Netz des DWD Stationen, die in UHI-relevanten Bereichen liegen? Oder sind alle Stationen so sorgfältig platziert, dass sie abseits der städtischen Wärmebeeinflussung liegen? Auch diese Frage beantwortete uns der DWD damals bereitwillig:
Sehr geehrter Herr Lüning,
damit gemäß WMO-Anforderungen die freie Exposition der Messstationen gegenüber den meteorologischen Einflussgrößen gewährleistet wird, befindet sich der überwiegende Anteil der Wetter- und Klimastationen außerhalb von Städten, gelegentlich auch am Stadtrand. Nur einige wenige Stationen befinden sich in Stadtzentren, wie z.B. in München oder in Jena. Unsere Klimauntersuchungen zu Frankfurt am Main (siehe http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:101:1-201106095249 ) zeigen, dass – die Lufttemperatur in Innenstadt und Umland nahezu gleichermaßen ansteigt, wenn man von den Einflüssen kleinerer Stationsverlegungen absieht, – die Erwärmung durch den Klimawandel ein Überlagerungseffekt ist, d. h., dass der projizierte Anstieg der Lufttemperatur über Städten im Vergleich zu ihrem Umland keine statistisch signifikanten Unterschiede aufweist.
Mit freundlichen Grüßen […]
Der DWD erklärte also, dass die allermeisten Stationen in ländlichen und UHI-unbedenklichen Gegenden liegen würden. Zudem gäbe es keinen Unterschied in der Erwärmungsrate zwischen Stadt und Land. An dieser Stelle der Diskussion ließen wir es Anfang 2015 bewenden. Hier fehlten ganz klar Daten und ein konkreter Ansatz, um die Frage wissenschaftlich zufriedenstellend zu klären. Am 15. April 2017 kam dann plötzlich Bewegung in die Thematik. Im Fachblatt „Science of The Total Environment“ erschien an jenem Tag eine Studie von Susanne Benz, Peter Bayer und Philipp Blum vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und der Technischen Hochschule Ingolstadt. Eine thematische Punktlandung: Wieviel städtischer Wärmeinseleffekt steckt eigentlich in den offiziellen Deutschland-Temperaturen des Deutschen Wetterdienstes? Die Forschergruppe fahndete nach Wärmeinseleffekten in der Luft, am Boden und im Untergrund. Eine wichtige Studie, leider ohne Pressemitteilung des KIT. In den Highlights der Publikation heißt es:
- Anthropogenic temperature anomalies are quantified in Germany.
- Temperatures in air, surface and groundwater correlate with nighttime lights.
- Groundwater temperature anomalies are most extreme.
- Heat anomalies in air and groundwater are mainly caused by artificial surfaces.
- Surface urban heat islands are observed in settlements with only 5000 inhabitants.
Kurz übersetzt: Anthropogene Anomalien in Deutschland quantifiziert. Die Temperaturen in der Luft, am Boden und im Grundwasser korrelieren mit dem Grad der nächtlichen Beleuchtung. Besonders starke Anomalien wurden im Grundwasser gefunden. Anomalien in der Luft und im Grundwasser werden vorwiegend durch künstliche Oberflächen (wie z.B. Asphaltflächen) verursacht. Städtische Wärmeinseleffekte wurden sogar in kleinen Orten mit bis zu 5000 Einwohnern gefunden.
Höchst spannend. Das wollten wir genauer wissen. Die Kalte-Sonne-Redaktion besorgte sich also die Publikation und studierte sie, in ganzer Länge. Eine wirklich gut lesbare Abhandlung, wenn man denn mit der englischen Wissenschaftssprache zurechtkommt. Der Aufbau der Arbeit ist gut strukturiert, Quellen werden klar genannt, die Argumentation ist logisch überzeugend. Chapeau!
Insgesamt wertete die Gruppe 464 vom DWD gelistete Stationen aus, die Deutschland flächig abdecken und deren Daten hier vorgehalten werden (siehe auch Karte in Abb. 1a der Publikation). In der Arbeit werden die Landstationen „Surface air temperature“ (SAT) genannt, da sie die Temperatur 2 m über Grund messen. Außerdem werteten die Autoren Satellitentemperaturdaten der NASA für Deutschland aus, die im Paper als „Land surface temperature“ (LST) bezeichnet werden. Die Daten entsprechen den level-5 MODIS daily products MOD11A1 and MYD11A1 der NASA-Satelliten TERRA und AQUA und wurden in einer Auflösung von 1 x 1 km bearbeitet. Auch diese Daten sind im Internet offenbar frei verfübar (hier). Susanne Benz und ihr Team fanden dabei, dass die DWD-Daten (SAT) im Mittel 0,26°C kälter als die NASA-Satellitendaten (LST) sind. Was zwei Meter Höhe doch so ausmachen… Außerdem untersuchten die Autoren Grundwassertemperaturen in Baden Württemberg. Auch spannend, soll aber heute nicht unser Thema sein, daher lassen wir diesen Aspekt im Folgenden aus.
Die Gruppe besorgte sich aus den genannten Quellen die jeweiligen Jahresdurchschnittstemperaturen für das Jahr 2015. Besonders warm war es entlang des gesamten Rheinverlaufs sowie entlang des Mains. Nun ging es an das Kernproblem: Welche DWD-Stationen und Gebiete wurden vom UHI beeinflusst und welche blieben weitgehend ungestört? Wie lässt sich der Grad der Beeinflussung quantifizieren? Susanne Benz und ihr Team haben hier einen riesigen Schrit nach vorne gemacht. Sie testen eine Reihe von möglichen Datensätzen, die als Näherung für den Grad der UHI-Beenflussung genutzt werden könnten. Zunächst probierten sie die Bevölkerungsdichte, aufgelöst in 1 x 1 km. Das Ergebnis war ernüchternd: Keine gute Übereinstimmung mit den Satellitendaten (LST), keine Korrelation. Nächster Versuch mit einer Datenbank zur Oberflächenbeschaffenheit Deutschlands, auf english „landcover“. Wieder nichts, keine Korrelation mit den flächendeckenden Satellitendaten.
Schließlich dann noch ein letzter Versuch mit einem vielleicht überraschenden Datensatz, einer Karte der nächtlichen Lichtintensität Deutschlands (englisch: „Nighttime lights“). Die Idee ist gar nicht so abwegig: Wo viel Licht ist, herrscht viel menschliche Aktivität. Diesmal traf der Pfeil ins Schwarze. Der statistische Pearson Korrelationskoeffizient von Satellitentemperaturen und Nachtlicht ergab beachtliche 0.55. Stärkere Nighttime Lights scheinen die Temperatur also zu erhöhen. Wiederum scheinen die Daten für begabte Datentüftler von der NOAA-Webseite frei herunterladbar zu sein. Konkret handelt es sich um (Auszug aus dem Paper):
Nighttime lights were compiled from Version 4 of the DMSP-OLS Nighttime Lights Time Series, Image and Data processing by NOAA’s National Geophysical Data Center, and DMSP data collection by the US Air Force Weather Agency. Data were only available up to January 2014, hence 10-year mean (01/2004–12/2013) nighttime lights were chosen. The results were again exported at a resolution of approximately 1 km× 1 km(Fig. 2a) using Google Earth Engine, 2015.
Die Einheit des Nighttime Light Spektrums reicht von 0 (dunkel) bis 63 (sehr hell) und wird in der Einheit DN gemessen (Abb. 1). Die Autoren ermittelten nun einen geeigneten Schwellwert um „klimatisch“ ländliche Gebiete von „klimatisch“ städtischen Zonen zu unterscheiden. Sie kamen dabei auf den Wert 15. Gegenden mit einem DN-Wert von 0-15 sind als ländlich einzustufen, Gegenden mit Werten oberhalb von 15 als städtisch. Der Blick auf die Karte in Abb. 1 zeigt schön die hellen Stellen: Hamburg, Berlin, München, Ruhrgebiet, Frankfurt/Main sowie der Südwesten.
Abb. 1: Nächtliche Lichtintensität in Deutschland als Maß für den Grad der Beinflussung durch den städtischen Wärmeinseleffekt. Quelle: Abb. 2a aus Benz et al. 2017.
Basierend auf diesem einfachen und vielleicht sogar genialen Konzept können nun endlich verlässlich Land und Stadt klimatisch unterschieden werden. Daher weiter mit dem nächsten Schritt. Die Gruppe wollte für die einzelnen Wetterstationen und 1 x 1-Satellitenkacheln die Wärmeinsel-Intensität separat berechnen. Dazu schufen sie einen Parameter, die sogenannte „Anthropogenic Heat Intensity“ (AHI), die im weitesten Sinne mit dem Grad der UHI-Beinflussung verwandt ist. Die Bestimmung der AHI ist denkbar einfach: Gemessene Temperatur an der Station bzw. der Satellitenkachel minus Temperatur des ländlichen Umlandes. An dieser Stelle ist es früher regelmäßig schiefgelaufen, denn das ländliche Umland ist gar nicht immer so ländlich wie man dachte. Erinnern Sie sich an die Highlights des Papers (siehe oben), in denen Wärmeinseln sogar in Orten mit lediglich 5000 Einwohnern gefunden wurden. Durch die neue Definition über das Nachtlicht gibt es nun eine verlässlichere Definition.
In der Praxis machten es die Autoren so: AHI-Berechnungen wurden nur für jene Wetterstationen durchgeführt, die im Umkreis von 47 km mindestens 5 ländliche Stationen mit Nachtlicht von 0-15 DN hatten. Aus diesen ländlichen Stationen wurde dann der Mittelwert gebildet. Die Temperatur der zu bestimmenden Station minus ländlicher Mittelwert ergibt dann den jeweiligen „Anthropogenic Heat Intensity“. In Fällen von weniger als 5 ländlichen Stationen wurde kein AHI berechnet, wodurch sich einige Löcher in der AHI-Karte in Abbildung 4a des Papers erklären (Abb. 2a). Insbesondere in den Ballungszentren war es schwierig, genug ländlichen Klimahintergrund zu bekommen. Hier blieb die Karte einfach weiß. Das Verfahren funktioniert analog für die Satellitentemperaturen, wobei mindestens ländliche 50 Satellitenkacheln im 47 km-Umkreis gebraucht wurden, um den AHI berechnen zu können. Das scheint kein großes Problem gewesen zu sein, denn die Satelliten-AHI-Karte macht einen ziemlich vollständigen Eindruck, vielleicht mit Ausnahme einiger Abschnite in den Küstenzonen (Abb. 2b).
Abb. 2: Anthropogenic Heat Intensity (AHI) in Deutschland. a) Wetterstationen („Air“), b) Satellitenmessungen („Surface“), c) Grundwasser. Quelle: Abb. 4 aus Benz et al. 2017.
Vertiefen wir uns in die AHI-Ergebniskarten in Abbildung 2. Bei den Wetterstationen gibt es drei große AHI-Klopper mit AHI-Werten über 1,1°C: bei München, bei Berlin und im Ruhrgebiet. Dies sind die orangen Punkte in der Karte. Diese Stationen scheinen regelrecht UHI-verseucht zu sein. Wenn man sich die Satellitenkarte in Abb. 2b anschaut, fallen die großen roten Flecken ins Auge, die ebenfalls UHI-bedenkliche Regionen markieren. Hier liegt eine Vielzahl von Stationen, deren Werte zur Berechnung der deutschlandweiten Jahresmitteltemperatur ganz offensichtlich ungeeignet sind. Stationen und Gegenden mit negativen AHI-Werte bzw. blauen Farben scheinen UHI-technisch in Ordnung zu sein. Schon bei den gelben AHI-Werten könnte es Probleme geben. Ein guter Grenzwert könnte z.B. eine AHI von 0,5°C sein, oberhalb dessen UHI-Korekturen durchgeführt werden müssten.
Projektanleitung: Bestimmung der wärmeinselarmen deutschen Jahresmitteltemperatur
Kommen wir nun zum Knackpunkt der ganzen Sache. Nachdem wir nun also recht genau wissen, welche Gegenden besonders stark vom UHI beeinflusst werden, können wir die hier gelegenen Stationen entsprechend aussortieren. Ziel sollte es sein, bei der Berechnung der Jahresmitteltemperatur nur jene Stationen zu berücksichtigen, die eine AHI von unter 0 besitzen. Auf diese Weise erhielte man eine ziemlich UHI-arme Temperaturkurve, die derzeit noch fehlt. Man darf hochgespannt sein, ob die momentan in den deutschlandweiten DWD-Temperaturkurven enthaltene Erwärmungsrate auch in der UHI-armen Variante in gleicher Höhe enthalten ist.
Vorgeschlagene Vorgehensweise:
1) Zur Bearbeitung der Daten wird eine GIS-Software (Geographisches Informationssystem) benötigt, z.B. ArcGIS, ArcView oder Ähnliches. Vielleicht geht es auch über Google Maps oder Google Earth.
2) Herunterladen der Nighttime Light-Daten von der NOAA-Seiten (siehe oben) und Import in die GIS-Software.
3) Import einer hochauflösenden Version der Satelliten-AHI-Karte aus Abbildung 2b (Abb. 4 aus Benz et al. 2017). Vielleicht können die Autoren sie zur Verfügung stellen?
4) Import aller DWD-Stationen als Punkte ins GIS. Die geographische Breite und Länge der aktuell vom DWD gelisteten Stationen finden Sie hier. Im Datensupplement des Papers gibt es zudem eine Exceldatei mit Koordinaten für die ausgwerteten AHI-Stationen.
5) Überlagern der DWD-Stationen mit der Nighttime Light-Karte: Alle Stationen die in Gebieten mit DN über 15 liegen, werden aussortiert. Sie bleiben bei der UHI-armen Deutschlandtemperaturberechnung unberücksichtigt da zu sehr UHI-beeinflusst.
6) Überlagern der DWD-Stationen mit der AHI-Satellitenkarte: Alle Stationen die in Gebieten mit AHI über 0 liegen, werden aussortiert. Sie bleiben bei der UHI-armen Deutschlandtemperaturberechnung unberücksichtigt da zu sehr UHI-beeinflusst. Man könnte zum Test auch eine Variante mit AHI über 0,5 ausprobieren.
7) Aus allen übriggebliebenen, UHI-armen Stationen kann nun eine Temperaturkurve gemäß DWD-Richtlinien berechnet werden. Hier müsste man sich informieren, wie topographische Höhenunterschiede und andere Effekte behandelt werden.
Gibt es fachkundige Interessierte, die hier aktiv werden wollen? Mit ein bisschen Daten-Talent sollte sich dies doch relativ leicht bewerkstelligen lassen. Interessierte können sich bei der Kalte-Sonne-Redaktion melden. Wir koordinieren die Crowd-Science-Initiative gerne, so dass Duplikationen im Sinne einer besseren Effektivität vermieden werden können. Wir wollen den Autoren der vorgestellten Studie keine Konkurrenz machen, falls diese sich des Themas annehmen wollen, das ist klar. Anbei noch der vollständige Abstract der Studie:
Identifying anthropogenic anomalies in air, surface and groundwater temperatures in Germany
Human activity directly influences ambient air, surface and groundwater temperatures. The most prominent phenomenon is the urban heat island effect, which has been investigated particularly in large and densely populated cities. This study explores the anthropogenic impact on the thermal regime not only in selected urban areas, but on a countrywide scale for mean annual temperature datasets in Germany in three different compartments: measured surface air temperature, measured groundwater temperature, and satellite-derived land surface temperature. Taking nighttime lights as an indicator of rural areas, the anthropogenic heat intensity is introduced. It is applicable to each data set and provides the difference between measured local temperature and median rural background temperature. This concept is analogous to the well-established urban heat island intensity, but applicable to each measurement point or pixel of a large, even global, study area. For all three analyzed temperature datasets, anthropogenic heat intensity grows with increasing nighttime lights and declines with increasing vegetation, whereas population density has only minor effects. While surface anthropogenic heat intensity cannot be linked to specific land cover types in the studied resolution (1 km × 1 km) and classification system, both air and groundwater show increased heat intensities for artificial surfaces. Overall, groundwater temperature appears most vulnerable to human activity, albeit the different compartments are partially influenced through unrelated processes; unlike land surface temperature and surface air temperature, groundwater temperatures are elevated in cultivated areas as well. At the surface of Germany, the highest anthropogenic heat intensity with 4.5 K is found at an open-pit lignite mine near Jülich, followed by three large cities (Munich, Düsseldorf and Nuremberg) with annual mean anthropogenic heat intensities > 4 K. Overall, surface anthropogenic heat intensities > 0 K and therefore urban heat islands are observed in communities down to a population of 5000.
Mehr zum UHI-Effekt hier.