Viele paläoklimatologische Studien basieren traditionell auf der Analyse von Sauerstoffisotopen. Diese werden durch die Temperatur beeinflusst, jedoch auch durch Veränderungen der Niederschläge, so dass eine sichere Zuordnung nicht immer möglich ist. Jedoch gibt es auch reine Temperatur-Rekonstruktionsmethoden, zu denen vor kurzem eine weitere dazugekommen ist. Das sogenannte MBT/CBT-Paläothermometer basiert auf Lipid-Biomarkern. Hintergrund der Methode ist das Phänomen, dass sich der Aufbau von Zellmembranen bestimmter Mikroorganismen in Abhängigkeit von Temperatur und pH-Wert verändert.
Ein schweizerisch-niederländisches Forscherteam um Helge Niemann von der Universität Basel untersuchte nun die Temperaturgeschichte der vergangenen 11.000 Jahre eines schweizerischen Alpensees mit dieser Methode. Die Gruppe veröffentlichte ihre Ergebnisse im Mai 2012 im Fachmagazin Climate oft he Past. Das Untersuchungsmaterial bestand aus Sedimentkernen aus dem Zentrum des Lago di Cadagno im Kanton Tessin. Altersdatierungen erfolgten mithilfe der Radiokarbonmethode.
Die Forscher konnten nachweisen, dass der See eine bewegte Temperaturgeschichte hinter sich hat. Das Klima durchlief dabei charakteristische Millenniumszyklen, wobei die Temperaturen um bis zu 2°C schwankten. Deutlich ausgeprägt sind die Mittelalterliche Wärmeperiode vor 1000 Jahren sowie die Kleine Eiszeit in der Mitte des letzten Jahrtausends. Weitere Wärmeperioden traten vor 3000, 5000 und 7000 Jahren auf. Die Wissenschaftler verglichen die Entwicklung mit derjenigen in anderen Gebieten und entdeckten ein hohes Maß an Übereinstimmung. Unter anderem fanden die Forscher eine große Ähnlichkeit mit den Temperaturzyklen der Spannagel Höhle im österreichischen Tirol. Hier hatte ein Team um den Heidelberger Geowissenschaftler Augusto Mangini vor einigen Jahren Tropfsteine analysiert und festgestellt, dass die Spannagel-Klimaänderungen synchron zu den von Gerard Bond festgestellten Temperaturveränderungen im Nordatlantik und zudem parallel zur Sonnenaktivität verliefen. In diesem Rhythmus tanzten nun offensichtlich auch die Temperaturen am Lago di Cadagno.
Insbesondere die am schweizerischen Alpensee nachgewiesenen Kältephasen vor 500 Jahren, 4000 Jahren, 6000 Jahren sowie 10.000 Jahren passen gut mit den aus dem Nordatlantik beschriebenen kalten Zeiten zusammen, die Bond mit 0, 3, 4 und 7 durchnummeriert hatte. Helge Niemann und sein Team fanden jedoch auch eine kurze aber prägnante Kältephase vor 2500 Jahren am Lago die Cadagno die offenbar eine lokale Sonderentwicklung darstellt und nicht durch schwache Sonnenaktivität erklärt werden kann. Zu dieser Zeit müssen andere natürliche Faktoren eine Rolle gespielt haben.
Die schweizerisch-niederländische Forschergruppe weist darauf hin, dass die Synchronität ihrer Klimakurve mit der Klimaentwicklung in anderen Gebieten möglicherweise sogar noch besser ist als es die Daten momentan anzeigen. Die limitierte zeitliche Auflösung durch begrenzte Beprobungsdichte, Unsicherheiten im Altersmodell sowie Verwühlung (Bioturbation) des Sediments durch Organismen ließen in ihrer Studie nur eine grobmaßstäbliche Rekonstruktion der Temperaturentwicklung zu.
Es bleibt zu wünschen, dass diese und andere eindeutige Temperatur-Rekonstruktionsmethoden in möglichst vielen zukünftigen Fallstudien in den verschiedensten Teilen der Erde angewendet werden. Die genaue Kartierung der Klima- und insbesondere der Temperaturgeschichte der vergangenen 10.000 Jahre quer über den Globus ist eine der wichtigsten Aufgaben der heutigen Klimawissenschaften. Nur wenn die Vergangenheit ausreichend bekannt ist, können auch die heutigen Temperaturveränderungen in einen korrekten Kontext gesetzt werden und der Anteil natürlicher und anthropogener Einflüsse verlässlich abgeschätzt werden. Die vorliegende Studie zeigt erneut eindrucksvoll, dass Schwankungen der Sonnenaktivität eine viel größere Rolle in der Vergangenheit gespielt haben als noch im letzten Bericht des Weltklimarats angenommen.
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