Schottland ist seit dem Ende der letzten Eiszeit vor 10.000 Jahren gletscherfrei – das jedenfalls dachte man bisher. Nun allerdings fand ein Forscherteam, dass man die natürliche Klimadynamik offenbar unterschätzt hat. Der Standard berichtete am 25. Januar 2014:
Überraschende Entdeckung: Spuren von Vergletscherung, die etwa 11.000 Jahre jünger sind als gedacht
Während die kontinentaleuropäischen Hochgebirge noch heute Gletscher tragen, schüttelte Schottland die eisige Last am Ende der letzten Kaltzeit vor etwa 12.500 bis 10.000 Jahren ab. So dachte man bislang zumindest. Nun gibt es aber Hinweise darauf, dass in Teilen Schottlands noch sehr viel später Gletscher vorhanden waren. […] Die Ergebnisse der Analysen weisen darauf hin, dass das Geröll erst im vergangenen halben Jahrtausend von einem Gletscher aufgehäuft wurde, also lange nach dem Ende der letzten großen Kaltzeit. Die kühlste Periode seitdem war die sogenannte Kleine Eiszeit, die sich vom 15. bis ins 19. Jahrhundert erstreckte, insbesondere aber von der Mitte des 17. bis zum frühen 18. Jahrhundert eine deutliche Abkühlung mit sich brachte.Ganzen Artikel im Standard lesen.
Die entsprechenden Studien von Harrison et al. und Kirkbride et al. erschienen im Februar 2014 im Fachmagazin The Holocene. Die Autoren halten es für möglich, dass nicht nur auf dem Höhepunkt der Kleinen Eiszeit, sondern auch in anderen Kälteperioden Gletscher in Schottland existiert haben könnten.
Interessanterweise haben Bergsteiger kürzlich auf dem höchsten Berg Großbritanniens, dem Ben Nevis in den Schottischen Highlands, Anzeichen für die Entstehung eines neuen Gletschers gefunden. Feiern die kühlen Eiszungen nach zweihundert Jahren Pause jetzt ein Comeback? Basierend auf einem BBC-Bericht meldete Wetter-Center.de am 1. September 2014:
An der Nordseite des Berges wurden Schneefelder in Rinnen und an Geröllhängen gefunden, die auch im Sommer nicht abgeschmolzen sind. Teilweise hat sich dieser Schnee bereits zu harten, eisartigen Schichten verdichtet und sogenanntes Firn gebildet. Das ist die erste Stufe zur Gletscherbildung. Die Forscher fanden auch Schneefelder mit einem Gewicht von mehreren hundert Tonnen, außerdem Tunnel und Risse im Eis, auch bekannt als Bergschrund, die normalerweise am oberen Ende eines Gletschers zu finden sind.
Springen wir jetzt über die Nordsee nordwärts nach Norwegen. Wie wir bereits im September 2013 an dieser Stelle gemeldet hatten, waren die Gletscher Westnorwegens vor 2000 Jahren kürzer als heute. Eine unbequeme Wahrheit.
Ein weiterer Sprung nach Norden bringt uns nach Island. Aus dieser Region hatte Deutschlandradio Kultur am 9. November 2013 Schreckliches zu vermelden:
Boten des Klimawandels: Islands Gletscher schmelzen so schnell wie noch nie
Etwa hundert Meter im Jahr weicht die Gletscherzunge zurück: Fast anderthalb Kilometer in den vergangenen 14 Jahren. […] Noch bedeckt der Mýrdalsjökull fast 600 Quadratkilometer mit bis zu 250 Meter dickem Eis. Ehrfurcht gebietend und weiß schimmernd thront er über den schwarzen Stränden der Südküste. Doch wie alle Gletscher Islands verliert auch der Mýrdalsjökull nicht nur an Länge, sondern auch an Masse. Um etwa einen Meter werden die Eisriesen Jahr für Jahr flacher, beobachtet die Glaziologin Helga Maria Heidarsdottir „Sie schmelzen so schnell wie noch nie seit dem Ende der letzten Eiszeit vor mehr als zehntausend Jahren. Isländische Wissenschaftler haben vorausgesagt, dass unsere Gletscher in 200 Jahren verschwunden sein werden, wenn die globale Erwärmung so weiter geht. Es ist sehr traurig, diese majestätische Naturgewalt dahinschwinden zu sehen. Es macht mich traurig und auch nervös: Denn all dieses Wasser fließt in den Ozean und erhöht den Meeresspiegel. Und das betrifft den ganzen Planeten und nicht nur Island.“
Eine wahrhaftige Katastrophe, erklärt uns das Deutschlandradio. Stets ging es den Gletschern auf Island gut, und dann kommt der böse Mensch. Zack fangen die Gletscher an zu schmelzen. Unerhört.
Aber halt, eine Kleinigkeit hat die Radioredakteurin Vanja Budde bei ihrem Schauerstück leider übersehen. Episoden in denen die isländischen Gletscher schmolzen, hat es nämlich in den letzten 10.000 Jahren schon immer gegeben. Die Gletscherspezialisten Martin Kirkbride und Andrew Dugmore hatten bereits im November 2008 im Fachmagazin Quaternary Research eine isländische Gletscherrekonstruktion für die vergangenen 2000 Jahre vorgestellt. Dabei fanden sie multiple Phasen von Gletschervorstößen, die sich in der Kälteperiode der Völkerwanderungen sowie während der Kleinen Eiszeit ereigneten Dazwischen gab es Phasen, in denen die Gletscher zurückwichen. In der Kleinen Eiszeit erreichten die Gletscher ihre größte gemessene Ausdehnung. Im Folgenden die Kurzfassung der Arbeit (Fettsetzung ergänzt):
Two glaciers at Eyjafjallajökull, south Iceland, provide a record of multiple episodes of glacier advance since the Sub-Atlantic period, ca. 2000 yr ago. A combination of tephrochronology and lichenometry was applied to date ice-marginal moraines, tills and meltwater deposits. Two glacier advances occurred before the 3rd century AD, others in the 9th and 12th centuries bracketing the Medieval Warm Period, and five groups of advances occurred between AD 1700 and 1930, within the Little Ice Age. The advances of Eyjafjallajökull before the Norse settlement (ca. AD 870) were synchronous with other glacier advances identified in Iceland. In contrast, medieval glacier advances between the 9th and 13th centuries are firmly identified for the first time in Iceland. This challenges the view of a prolonged Medieval Warm Period and supports fragmentary historical data that indicate significant medieval episodes of cooler and wetter conditions in Iceland. An extended and more detailed glacier chronology of the mid- and late Little Ice Age is established, which demonstrates that some small outlet glaciers achieved their Little Ice Age maxima around AD 1700. While Little Ice Age advances across Iceland appear to synchronous, the timing of the maximum differs between glacier type and region.
In einer Arbeit aus dem Jahr 2010 im Fachblatt Developments in Quaternary Sciences erinnerten Ólafur Ingólfsson und Kollegen daran, dass viele der isländischen Gletscher während des mittelholozänen Klimaoptimums vor 6000 Jahren offenbar komplett abgeschmolzen und verschwunden waren. Da hätte das Deutschlandradio unbedingt einhaken müssen, da die herangezogene Expertin Helga Maria Heidarsdottir diese wichtige Schmelzphase in ihrer dramatisierten Schilderung offenbar komplett übersehen hat. Im Abstract der Arbeit von Ingólfsson et al. hätten sie es nachlesen können:
Iceland was heavily glaciated at the Last Glacial Maximum – glaciers extended towards the shelf break. Ice thickness reached 1,500±500 m. The rapid deglaciation, starting 17.5–15.4 cal. kyr BP, was controlled by rising global sea level. The marine part of the ice sheet collapsed 15.4–14.6 cal. kyr BP and glaciers retreated inside the present coastline. In Younger Dryas, 12.6–12.0 cal. kyr BP, the ice sheet readvanced and terminated near the present coastline. After 11.2 cal. kyr BP the ice sheet retreated rapidly and relative sea level fell towards and eventually below present sea level at 10.7 cal. kyr BP. At 8.7 cal. kyr BP glaciers terminated proximal to their present margins. During the mid-Holocene climate optimum some of the present-day ice caps were probably absent. Ice caps expanded after 6.0–5.0 cal. kyr BP, and most glaciers reached their Holocene maxima during the Little Ice Age (AD 1300–1900).
Unberücksichtigt ließ das Deutschlandradio auch, dass die Schmelzrate wohl von 60-jährigen Ozeanzyklen, vermutlich der Atlantischen Multidekadenoszillation (AMO), geprägt wird. Schomacker und Kollegen hatten 2012 eine Studie zu Gletschern in Südisland veröffentlicht, in der der Zyklus in den Gletscherkurven der letzten 80 Jahre klar herauskommt (siehe Abbildungen 1 und 2).
Abbildung 1: Veränderung der Gletscherlänge in Südisland (Sólheimajökull). Ausschlag nach oben bedeutet Gletschervorrücken, Ausschlag nach unten Gletscherschmelzen. Es scheint eine Zyklik ausgebildet zu sein, die mit den 60-jährigen Ozeanzyklen in Verbindung stehen könnte. Quelle: Schomacker et al.
Abbildung 2: Ozeanzyklus der Atlantischen Multidekadenoszillation (AMO).
Zum Abschluss unserer kleinen Europa-Gletscher-Rundreise geht es jetzt noch einmal in den Südwesten des Kontinents. In den Pyrenäen hat sich in den letzten Jahren etwas gänzlich Unerwartetes ereignet. In den Wintern 2011-2013 hat sich der Arcouzan Gletscher doch tatsächlich vergrößert. Von tödlichem Gletschersterben keine Spur. Man darf gespannt wie es dort weitergeht.
Im nächsten Teil unserer Gletscherserie geht es dann nach Nordamerika.