Vor kurzem berichteten wir an dieser Stelle über eine neue PIK-Studie zur Antarktis-Eisschmelze („Der antarktische Geist aus der Flasche: PIK-Artikel zur Eisschmelze in der Ostantarktis enttäuscht mit schwacher Meeresspiegelanstiegsrate„). Erst im letzten Absatz der dazugehörigen Pressemitteilung räumten die Potsdamer schießlich ein, dass der ganze Schmelzprozess nicht von heute auf morgen abläuft, sondern laut Modellierung fünf- bis zehntausend Jahre in Anspruch nimmt. In der offiziellen Kurzfassung der Arbeit fehlt die Angabe zum Zeitraum sogar vollständig. Der behauptete Meeresspiegelanstieg von drei Metern in 5.000 Jahren entspricht dabei einer mittleren Anstiegsrate von 0,6 mm pro Jahr! Die ganze Geschichte entpuppt sich als Sturm im Wasserglas. Die Anstiegsrate lassen die beiden PIK-Leute in ihrer Pressemitteilung einfach aus. Man spürt deutlich, dass hier zwei Forscher zugange waren, die auf der Suche nach möglichst spektakulärer medialer Klimaalarm-Berichterstattung waren.
Für die Boulevardpresse sind diese Feinheiten nur störend. Man braucht handfeste Skandale und Katastrophen um die abgespannte Leserschaft auf dem Weg nach Hause in den Pendlerzügen und -bussen zu unterhalten. So dachte auch das vielgelesene schweizerische Pendlerblatt Blick am Abend, das allabendlich in den Bahnhöfen gratis verteilt wird. Am 20. Mai 2014 griff man die PIK-Antarktisgeschichte auf:
Tipping Point: «Lange passiert wenig, plötzlich geht es schnell»
Eine kleine Störung kann grosse Auswirkungen haben, erklärt Klima-Experte Reto Knutti. Ein Kipp-Moment liess den Triftgletscher rekordmässig schmelzen. In der Ost-Antarktis wird Schlimmeres befürchtet.
New York, Tokio, Mumbai und Dublin überflutet: Eine deutsche Studie warnt vor einer Klimakatastrophe ungeheuren Ausmasses. Die Wissenschaftler vom Potsdam Institut für Klimaforschungen haben das Wilkes-Becken in der Ost-Antarktis untersucht. Dort, an der George-V.-Küste, hält eine Art Eisstöpsel die sich dahinter auftürmenden Eismassen zurück. Die Wissenschaftler warnen nun, dass dieser Stöpsel durch die Klimaerwärmung schmelzen und sich die riesige Eismasse in den Ozean ergiessen könnte. Ein Anstieg des Meeresspiegels um mehrere Meter wäre die Folge. Auch ein Stopp der Erderwärmung würde den Vorgang nicht bremsen.
Schön schaurig kingt das alles. Es stellt sich sogleich die Frage: Und was ist mit den Küsten der Schweiz, sind diese auch gefährdet? Haha, gibts ja gar keine. Man müsste die Problematik für den Schweizer Pendler irgendwie übersetzen, damit er etwas damit anfangen kann. Auftritt Reto Knutti von der ETH Zürich:
Beim schmelzenden Eispfropfen in dem Szenario handle es sich um einen sogenannten «Tipping Point» (Umkipp-Punkt), erklärt Reto Knutti von der ETH Zürich. Eine kleine Störung führt plötzlich zu etwas unerwartet Grossem, das nicht mehr gestoppt werden kann. Solche Phänomene gebe es immer in komplexen Systemen, führt der Klima-Experte aus. Beispielsweise bei einem Hangrutsch oder auch beim Übergang vom Biegen zum Brechen: «Lange passiert wenig, und plötzlich geht es schnell, anders.» Vergleichbares – einfach in einem kleineren Ausmass – sei beim Triftgletscher im Susten-/Grimselgebiet passiert. Der typische Gletscher, der von oben nach unten fliesst, schmilzt ziemlich graduell, je wärmer desto mehr. Wird es nicht mehr wärmer, wird er irgendwann zwar kürzer, aber dennoch stabil sein. Ausser der Untergrund bildet eine Art Mulde – wie es beim Triftgletscher der Fall ist. Knutti: «Dann füllt das Eis entweder die ganze Mulde aus, oder gar nicht. Dazwischen gibt es keinen stabilen Zustand.» Im Hitzesommer 2003 versank die Gletscherzunge des Triftgletschers im Schmelzwassersee, worauf sich der Gletscher innerhalb eines einzigen Jahres um rekordmässige 136 Meter zurückzog.
Hat Knutti da nicht eine Kleinigkeit unerwähnt gelassen? Gletscher-Experte Christian Schlüchter half Knutti vor einigen Tagen über die „Gedächntnislücke“ hinweg:
Man muss Knutti jedoch lassen, dass er in der Pendlerzeitung ein Propaganda-Meisterstück abgeliefert hat, ohne sich damit allzu verwundbar zu machen: Erst schnappt sich Knutti eine alpine Gletscherschmelz-Episode aus dem Jahrhundert-Hitzesommer 2003 als eine eingängige Metapher für den (von den Klima-Alarmisten heiss geliebten) Tipping-Point, um dieses Beispiel dann flugs auf die angeblich unumkehrbaren Schmelzvorgänge in der Antarktis zu übertragen, so dass die Leserschaft den Eindruck eines unzweifelhaften und unabwendbaren Desasters erhalten muss. Dabei schafft es Knutti wiesel-schlau, sich bezüglich der sehr langen Zeitperspektive solcher Prozesse, mit einigen vagen relativierenden Sätzen, ein wissenschaftliches Hintertürchen zu lassen, ohne dass die Leser irgendwo eindeutig mitgeteilt bekommen, dass diese Vorgänge sehr lange dauern würden und der damit verbundene Meeresspiegelanstieg pro Zeit ziemlich bescheiden und unproblematisch wäre.