Der Meeresspiegel steigt unaufhaltsam. Schuld daran wäre der Mensch, heißt es. Wenn wir weiter ungehemmt CO2 ausstoßen wie bisher, werden Nord- und Ostsee die norddeutsche Tiefebene überfluten, eine gerechte Strafe für unser frevelhaftes Tun. Da gerade in den letzten Jahrzehnten die CO2-Konzentration in der Atmosphäre besonders stark angestiegen ist, müsste sich dies in der Meeresspiegelentwicklung deutlich niedergeschlagen haben – wenn die Zusammenhänge so einfach wären, wie sie in den Katastrophenszenarien angenommen werden.
Zeit für einen Faktencheck: Hat sich der Meeresspiegelanstieg in der Nordsee bereits beschleunigt? Inwieweit hat das Meer bereits auf die Veränderungen in der Treibhausgaskonzentration reagiert? Ist es wirklich so schlimm, wie von einigen Akteuren öffentlich lautstark verkündet? Eine Forschergruppe um Thomas Wahl von der Universität Siegen hat sich jetzt die Meeresspiegelentwicklung der Nordsee für die vergangenen 200 Jahre anhand eines umfassenden Messnetzes von 30 Küstenpegeln näher angeschaut. Und die Studie fand Überraschendes: Der Meeresspiegelanstieg der Nordsee hat sich in den letzten Jahrzehnten keinesfalls beschleunigt. Vielmehr ist die Anstiegsgeschwindigkeit seit mehr als 100 Jahren, nach Ende der Kleinen Eiszeit, konstant geblieben. Im Durchschnitt hat sich der Meeresspiegel in dieser Zeit um 1,5 Millimeter pro Jahr erhöht, was nur etwa die Hälfte von dem beträgt, was man aus globalen Satellitenmessungen ableitet. Auch fand das Team um Thomas Wahl, dass es auf kürzere Sicht bereits im 19. Jahrhundert Phasen gegeben hat, in denen der Meeresspiegel rapide hochschnellte, in Größenordnungen die mit der heutigen vergleichbar sind.
Abbildung 1: Meeresspiegelanstieg verschiedner Nordseesektoren (links) und Entwicklung der Anstiegsraten (rechts). Aus: Wahl et al. 2013.
Die im September 2013 im Fachmagazin Earth Science Reviews veröffentlichte neue Studie stellt wichtige Basisdaten zur Verfügung, die in der überhitzten Meeresspiegeldiskussion dringend benötigt werden. Angesichts der Bedeutung der neuen Erkenntnisse gab die Universität Siegen bereits am 18. Juli 2013 eine Pressemitteilung zur Arbeit heraus (Auszüge):
Dr. Thomas Wahl von der Universität Siegen publizierte gemeinsam mit einem europäischen Konsortium eine Studie zur Veränderung des Mittleren Meeresspiegels an der gesamten Nordsee. „Wenn wir verstanden haben, was in den letzten 150 Jahren passiert ist, sind Prognosen für die Zukunft leichter und entsprechende Simulationen besser zu überprüfen“, so Prof. Dr. Jürgen Jensen, Leiter des Forschungsinstituts Wasser und Umwelt (fwu) im Department Bauingenieurwesen an der Universität Siegen. […] Gemeinsam mit acht Autoren publizierte [Thomas Wahl] nun in der angesehenen Fachzeitschrift „Earth-Science Reviews“ einen Aufsatz mit dem Titel „Beobachtungen von Veränderungen des Mittleren Meeresspiegels entlang der Nordseeküste von 1800 bis heute.“ Ziel war es dabei, möglichst exakte Aussagen über die Küstenbereiche aller Anrainerstaaten inklusive des Ärmelkanals und der Übergänge zum Atlantik abzuleiten. Die Ergebnisse – von Siegen aus koordiniert – lassen einerseits aufatmen, geben andererseits aber keine Grundlage für gänzliche Entwarnung. Jensen: „Es gibt ein relativ konstantes Anstiegsverhalten des Mittleren Meeresspiegels seit Beginn des 20. Jahrhunderts, aber keinen außergewöhnlichen Anstieg in den letzten Jahrzehnten, den wir direkt dem Klimawandel zuschreiben könnten.“ Die globalen Werte passten auch zur Nordsee, es gebe aber regionale Besonderheiten. Jensen: „Diese Ergebnisse geben uns eine gewisse Planungssicherheit für den Küstenschutz im Allgemeinen.“ Die bisher erzielten Ergebnisse sollen allerdings erst den Anfang und die Grundlage für weitere Untersuchungen darstellen, die letztendlich dabei helfen sollen, nachhaltige Strategien zur Sicherung der Küsten abzuleiten. Zudem müsse das nächste Ziel sein, sich die gesamte Ostsee und deren Küsten unter dem Gesichtspunkt des Mittleren Meeresspiegels anzuschauen.
Die lokale WAZ und das Campusradio der Uni Siegen, Radio Radius 92,1, berichteten über die Studie. Zudem diskutierte Klaus-Eckart Puls die Arbeit in einem Blogbeitrag. Das wars jedoch bereits. Seltsamerweise zogen es alle großen Medien vor, die Arbeit zu ignorieren. Vielleicht wollte man sich nicht die Vorfreude auf den neuen IPCC-Bericht verderben, der einige Monate später, im Herbst 2013 herauskommen sollte. Und die Taktik ging auf: Als der 5. Klimabericht dann schließlich veröffentlicht wurde, machte man einfach so weiter wie bisher und behauptete frech, dass der Meeresspiegel schneller steigen würde als bislang angenommen (siehe unseren Blogbeitrag „Fragwürdige Finte: Neuer IPCC-Bericht behauptet Verschärfung des Meeresspiegelanstiegs, während neue Studien das genaue Gegenteil fanden“). Da fehlen einem die Worte. Wann endlich gelingt es der Gesellschaft, sich aus dem medialen Würgegriff der Klimaaktivisten zu befreien?