Und plötzlich taute ein ganzer Wald aus dem Gletscher aus: Während der Römischen Wärmephase vor 2000 Jahren waren Gletscher in Alaska und British Columbia kürzer als heute

Im Rahmen unserer kleinen Gletscherkunde geht es jetzt nach Amerika. Wir starten hoch im Norden an der Westküste in Alaska. Gletscher bedecken etwa 5% der Staatsfläche und reichen zum Teil bis an die Küste heran. Eine gute Übersicht über die Gletscher Alaskas gibt es von Bruce Molnia vom US Geological Survey aus dem Jahr 2008. Das Buch kann kostenfrei als pdf heruntergeladen werden. Molnia weist in der Zusammenfassung darauf hin, dass sich die Gletscher in Alaska während der Kleinen Eiszeit stark ausgedehnt hatten, jedoch seit dem 18. Jahrhundert wieder im Rückzug begriffen sind, ein Prozess der bis heute anhält. Es gibt vermutlich mehr als 100.000 Gletscher in Alaska, von denen aber lediglich 600 einen offiziellen Namen tragen. Die größten drei Gletscher sind der Mendenhall, Columbia und Ruth Gletscher. Im September 2013 meldete NBC News, dass aus dem schrumpfenden Mendenhall Gletscher kürzlich ein ganzer fossiler Wald aus der Römischen Wärmeperiode von vor 2000 Jahren auftauchte. Zu jener Zeit muss der Mendenhall Gletscher also deutlich kürzer gewesen sein als heute.

Auch der Columbia Gletscher schrumpft derzeit. Jedoch soll der Rückzug des Eises laut einer Studie der University of Colorado Boulder um 2020 zunächst enden, da der Gletscher dann eine neue stabile Lage erreicht, wobei das Relief des Untergrundes ein weiteres Zurückweichen zunächst verhindern wird. Überhaupt macht man sich heute viel differenziertere Gedanken, wie sich die Gletscherschmelze zeitlich entwickelt. Die Zeiten einer simplistischen Extrapolation der schlimmsten Schmelzrate bis 2100 sind eindeutig vorbei. Im August 2013 erschien im Journal of Glaciology eine Studie eines Forscherteams der University of Alaska Fairbanks um Austin Johnson, in der die Autoren mit Hilfe von Laser Altimetrie die Schmelzrate der Gletscher in Alaska und im südlich hiervon gelegenen kanadischen British Columbia ermittelten. Das Ergebnis überrascht: Zwischen 1995 und 2011 verloren die Gletscher der Region knapp 4 Gigatonnen an Masse pro Jahr. Die Schmelzrate hat sich im Vergleich zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie dem 19. Jahrhundert signifikant verlangsamt. Für die Zeit zwischen 1770 und 1948, also dem Übergang von der Kleinen Eiszeit zur Modernen Wärmperiode, ermittelten Johnson und Kollegen einen Schmelzbetrag von knapp 18 Gigatonnen pro Jahr. Allmählich scheinen sich die Gletscher der Region zu stabilisieren, nachdem das in der Kleinen Eiszeit zusätzlich gebildete Eis wieder verschwunden ist.

Anders als in anderen Regionen der Erde, scheinen die Gletscher in British Columbia während des mittelholozänen Klimaoptimums gewachsen zu sein, wie eine Studie eines Teams um Jill Harvey zeigt, die im September 2012 im Fachmagazin The Holocene erschien. Die Forscher fanden Holzreste, die eine Gletscherexpansion zwischen 7020 und 5470 Jahren vor heute belegen. Gemäß einer Studie von Kate Johnson und Dan Smith aus dem gleichen Monat in The Holocene waren einige Gletscher in British Columbia (B.C.) während der Römischen Wärmephase vor 2000 Jahren offensichtlich kürzer als heute. Aus dem Gletscher heute austauende Holzreste wurden laut Altersdatierung ab 250 n. Chr. vom Gletscher überrollt. Eine signifikante römische Gletscherschmelze wird auch durch eine Arbeit einer Forschergruppe um Malyssa Maurer gestützt, die aufgrund von Untersuchungen an Pflanzenresten stark verkürzte Gletscher in B.C. vor 2000 Jahren annehmen. Die Studie erschien im September 2012 in den Quaternary Science Reviews.

Folgen wir nun der Kordillere der amerikanischen Westküste weiter nach Süden in den US-amerikanischen Bundesstaat Washington. Ein Team um Gerald Osborn veröffentlichte im August 2012 in den Quaternary Science Reviews eine Arbeit zur Gletschergeschichte des Mount Baker. Die Wissenschaftler fanden, dass die Gletscher vor 6000 Jahren fast verschwunden waren und sich der Berg erst danach wieder richtig vergletscherte. Die eisarme Phase fällt in das mittelholozäne Klimaoptimum. Für die letzten 2500 Jahre wiesen Osborn und Kollegen einen steten Wechsel zwischen Gletscher-Wachstum und –Schrumpfen nach. Zur Zeit der Kleinen Eiszeit erreichte der Gletscher seine maximale Ausdehnung. Hier ein Auszug aus der Kurzfassung der Arbeit:

A series of progressively more extensive Neoglacial advances, dated to about 2.2, 1.6, 0.9, and 0.4 ka, are recorded by stacked tills in the right lateral moraine of Deming Glacier. Intervening retreats were long enough to allow establishment of forests on the moraine. Wood mats in moraines of Coleman and Easton glaciers indicate that Little Ice Age expansion began before 0.7 ka and was followed by retreat and a readvance ca 0.5 ka. Tree-ring and lichen data indicate glaciers on the south side of the mountain reached their maximum extents in the mid-1800s.

Östlich von Washington State liegt Montana. Bereits letztes Jahr berichteten wir an dieser Stelle über ein unerwartetes Phänomen: „Wer hätte das gedacht: Gletscher in Montana schmolzen in den 1930er und 40er Jahren bis zu 6 mal schneller ab als heute“.

Weiter nach Südamerika, in die Anden. Die Gletscher schmelzen dort derzeit rasch. Neue Studien aus Bolivien scheinen nun jedoch anzuzeigen, dass dies nicht nur ein Ergebnis der hohen Temperaturen der aktuellen Modernen Wärmeperiode ist, sondern dass Ruß aus der Verbrennung von Kohle und anderen natürlichen Brennstoffen sowie Waldbränden und Vulkanen den Gletschern kräftig einheizt. Die schwarzen Partikel auf der Eisoberfläche absorbieren mehr Sonnenlicht und Wärme, als das besser reflektierende reine Eis.

Wie anderswo, waren auch in Argentinien die Andengletscher während der Kleinen Eiszeit kräftig angewachsen. Laut einer Studie von Ruiz et al. über Patagonien, die im Juni 2012 im Fachmagazin Climate of the Past erschien, erreichten die Gletscher im frühen bis mittleren 17. Jahrhundert ihre maximale Ausdehnung. Seitdem schrumpfen die Gletscher wieder. Der Beginn dieses Gletscherrückgangs liegt also weit in vorindustrieller Zeit. Ruiz und Kollegen heben hervor, dass es in den 1970er Jahren sogar zu einem kurzzeitigen neuen Gletschervorstoß gekommen ist. Die Komplexität der globalen Gletscherentwicklung wird klar, wenn man die Studie von Menounos und Kollegen heranzieht, die im Oktober 2013 in den Quaternary Science Reviews erschien. Die Autoren untersuchten Gletscher im argentinischen Feuerland und fanden eine große Eisausdehnung während des mittelholozänen Klimaoptimums vor 6000 Jahren, die derjenigen der Kleinen Eiszeit entspricht.

Schließen wollen wir unsere kleine Gletscherkunde mit einer guten Nachricht aus Afrika: Die Eiskappe des höchsten Berges des Kontinents, des Kilimandscharo, wächst wieder, wie eTN im Mai 2012 meldete:

Mount Kilimanjaro is slowly building up its snow cover, allaying the fears of prominent scientists who had predicted witnessing the eminence lose its famous white hat. The drifts are slowly thickening on the top point of this summit, giving new hopes to Mount Kilimanjaro environmental watchdogs and tourists that the peak may not lose its beautiful snowy cap, as scientific experts have long been warning.

Fazit: Bei aller Aufgeregtheit und Trauer über aktuell schmelzende Gletscher lohnt es sich auf jeden Fall, den paläoklimatologischen Kontext der letzten Jahrtausende nicht aus den Augen zu verlieren. Viele der Eisbrocken, deren Schicksal wir heute beweinen, entstanden erst vor 5000 Jahren und stammen gar nicht aus der sagenhaften Eiszeit, als alles viel besser schöner und gemütlicher war, wie einige Zeitgenossen heute meinen. Das Einhorn lässt schön grüßen.

 

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Siehe auch Übersicht von Alfred Brandenberger zu weiteren weltweiten Gletscher-Artikeln in seinem Klima-Vademecum.